Meritokratie, der Gedanke also, dass gesellschaftliche Funktionseliten vor allem aus besonders leistungsfähigen Menschen nicht etwa infolge sozialer Privilegien gebildet würden, Meritokratie hat vor allem auch deshalb Konjunktur, weil durch den jüngsten „admission scandal” und die im Rahmen eines Gerichtsverfahrens erzwungene Offenlegung der Zulassungskriterien von Harvard University erhebliche Zweifel an der Treue der US-amerikanischen Gesellschaft zu diesem hehren Prinzip aufgekommen sind.
In der vergangenen Ausgabe der Nordamerika Nachrichten hatten wir uns mit einer Beobachtung von David Brooks befasst, der die exklusive Meritokratie der Elitehochschulen des Landes gegen eine beispielsweise an der Arizona State University praktizierte, inklusive Variante des Prinzips stellt.
Das Feld ist allerding deutlich komplexer, so komplex, dass es der Chronicle of Higher Education in einem „meritocracy-forum” erörtert, dessen Eingangsbereich mit deftigen Zitaten gewürzt ist: „On the evidence we have, the meritocratic ideal ends up being just as undemocratic as the old emphasis on inheritance and tradition [Ross Douthat in der New York Times] (…) Our supposedly meritocratic system is nothing but a long con [Alanna Schubach, ein sog. Admission Coach] (…) Merit itself has become a counterfeit virtue, a false idol. And meritocracy – formerly benevolent and just – has become what it was invented to combat. A mechanism for the concentration and dynastic transmission of wealth and privilege across generations [Daniel Markovits, Professor an Yale University und Autor des Buchs The Meritocracy Trap].”
Markovits ist denn auch der erste Forums-Beitrag vorbehalten. Dessen These ist vor dem Hintergrund der gravierenden Stratifiezierung und Kalzifizierung der US-amerikanischen Gesellschaft, dass das Gerede von Meritokratie die hierarchischen Strukturen sanktionieren und die gesellschaftlichen Eliten als demokratie-verträglich verkaufen sollen. Der Zorn im Beitrag ist verständlich, denn laut Markovits ist das Bildungssystem stark segregiert. Ein Beispiel: „The districts that fund elite public schools are filled with expensive houses – between mortgage interest and taxes, the median house in Scarsdale [Vorort von New York City] costs nearly $100,000 per year to own. Seventy percent of the students at top private schools come from the top 4 percent of the income distribution. Ivy Plus colleges educate more students from the top 1 percent of the income distribution than from the entire bottom half. (…) When inequality of outcome grows too great, equality of opportunity becomes impossible.”
In die gleiche Kerbe schlägt Caitlin Zaloom mit ihrem Beitrag über „middle-class families and the hidden injuries of meritocracy”, wenn sie ausführt, dass die bloße Idee absurd sei, Schüler würden allein aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit beurteilt und gefördert. Sie ist Professorin für Sozialwissenschaften und Autorin des Buchs Indebted: How Families Make College Work at Any Cost, und sie schreibt: „Every admissions officer knows that glowing applications are not merely produced by good grades; they’re largely the result of test tutors, private music lessons, pay-to-play sports, and the halo of charity work pursued for the length of a school break.” Eine weniger betuchte Mittelklasse kämpfe mit deutlich beschränkteren Mitteln um die Zukunft ihrer Kinder und müsse sehr häufig mit nachfolgenden Plätzen Vorlieb nehmen. Es heißt: „The college admissions system sets middle-class families up to fail. And when they do, they feel that failure in their bones.”
Die Philosophin Agnes Callard gibt zu bedenken, dass Meritokratie immer ein willkommenes Ziel von Kritik sein würde, denn der Vorwurf, jemand sei unverdient dort, wo er sei, ließe sich ebenso leicht äußern, wie nur schwer widerlegen. Das Konzept solle jedoch nicht die Antwort auf die Frage nach einer gerechten Verteilung von Macht und Ressourcen sein, sondern vielmehr ein ständiger Anlass, diese Frage zu stellen.
Walter Kimbrough möchte sich als Präsident Dillard University grundsätzlich vom Konzept „merit” verabschieden, weil merit in seinen Augen käuflich und vererbbar und mithin für Unterpriviligierte eine nur schwer zu überwindende Barriere sei. Er schreibt: „In many African American households, parents tell their children that they have to be two or three times as good to get the same opportunities. My mom, a Phi Beta Kappa graduate of the University of California at Berkeley who double majored in chemistry and math, didn’t just tell me that; she lived it. My concern is that too many without power or privilege falsely believe that everyone is equal, and merit is applied equally. The statistics say otherwise.”
Anastasia Berg möchte daher auch die von den Eliten so geliebten Traditionen der Eliten-Reproduktion über Bord werfen und die Zulassung zu den selektivsten Hochschulen per Los entscheiden lassen. Sie meint: „Randomized admissions will begin to rectify the moral devastation brought on by decades of running college admissions like a bloodsport.”
Leon Botstein möchte als Präsident des sehr selektiven Bard College das Kind nicht gleich mit dem Bade ausgeschüttet wissen und plädiert für die Erhaltung des Grundgedankens von Meritokratie und für bessere Routinen zur Beurteilung von Verdienst. Er appelliert: „Let’s not confuse the proper defense of political equality and social justice with an ideological resistance to making qualitative distinctions that identify true excellence.”
Eine bemerkenswerte Ausnahme im Chor der Stimmen, die Meritokratie in der gegenwärtigen Fassung für eine Farce halten, ist schließlich der Beitrag von Thomas Chatterton Williams. Er besteht darauf, dass für ihn als Machtlosen der Bleistift (#2) beim Ausfüllen von standardisierten Tests wie dem SAT das einzig verfügbare Machtinstrument sei. Er berichtet von einer Diskussion mit dem Präsidenten der den SAT produzierenden Firma im Rundfunkstudio des typischen, liberalen Mittelklassesenders National Public Radio, bei dem ihm der SAT-Mann die Einführung eines sog. „adversity index” zur Beurteilung der Größe von Hürden als große Errungenschaft habe verkaufen wollen. Er habe dies als ein wenig herablassend empfunden, wie überhaupt die Mittelstandskritik an Missständen der Meritokratie. Für ihn sei sie – trotz aller Mängel – bislang noch die zuverlässigste Art, Talent zu identifizieren und zu fördern. Er schreibt: „I didn’t need an adversity index to measure my disadvantage or to tell me that a sizable portion of my future classmates would come from families with significantly more wealth than mine. I didn’t need to be reminded that I was descended from slaves or that, in any previous era, an education could not have been mine. What I needed was a shelf of Barron’s Test Prep books, several Nike shoe boxes stuffed with vocabulary flashcards, and what German and Yiddish speakers refer to as sitzfleisch: literally ’butt flesh’ (metaphorically, ’The amount of endurance a person has for sitting still on her butt for the long hours it takes to get important work done’).”

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